Missbrauchsprozess gegen Chirurg: Die meisten seiner 299 Opfer waren Kinder
In Frankreich steht derzeit einer der schlimmsten geständigen Sexualstraftäter vor Gericht: Die meisten seiner 299 Opfer waren Kinder, an denen sich der Chirurg Joël Le Scouarnec am Krankenbett oder auf dem Operationstisch vergangen hat. Der Prozess läuft bereits seit Februar, in der kommenden Woche steht das Urteil an. Bei der Anhörung zahlreicher Vertreter der Krankenhäuser und Gesundheitsbehörden räumte kaum jemand ein Fehlverhalten ein.
Für die Opfer enttäuschend und für viele überraschend: Im Unterschied zu dem Vergewaltigungsprozess von Gisèle Pelicot stieß der Prozess gegen Le Scouarnec keine große gesellschaftliche Debatte darüber an, wie solche Grausamkeiten künftig besser zu verhindern seien.
Prozess stieß bislang keine gesellschaftliche Debatte an
Das dürfte auch daran liegen, dass sich relativ wenige Politiker des Themas angenommen haben. Und dies wiederum könnte sich dadurch erklären, dass über Jahre hinweg sämtliche Aufsichtsinstanzen versagt haben.

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Bei der Anhörung der zahlreichen Vertreter der Krankenhäuser und Gesundheitsbehörden räumte kaum jemand ein Fehlverhalten ein. Le Scouarnec, der bereits 2004 wegen des Besitzes kinderpornografischer Bilder zu einer Bewährungsstrafe verurteilt worden war, besetzte an etwa einem Dutzend Krankenhäuser verantwortungsvolle Posten.
Angeklagter beschrieb sein Handeln als Aussetzer wegen ehelicher Probleme
Teilweise berichtete er Vorgesetzten selbst von seiner Verurteilung und beschrieb sein Handeln als einen Aussetzer wegen ehelicher Probleme. So erwähnte die frühere Chefin des Krankenhauses von Jonzac, Michèle Cals, vor Gericht, wie Le Scouarnec sie selber auf die Bewährungsstrafe hingewiesen hatte.
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Auf die Frage der Richterin, ob sie versucht habe, daraufhin weitere Informationen über den Bewerber einzuholen, antwortete sie: „Das Krankenhaus brauchte einen Chirurgen. Er arbeitete ordentlich, es gab nichts auszusetzen“, sagte sie. „Ich habe versagt, wie das gesamte Management“, fügte sie hinzu.
Prozess gegen Chirurg: Ermittler fanden Tagebücher des Arztes
Keine Behörde, kein Vorgesetzter, kein Kollege befasste sich intensiv genug mit Le Scouarnec, um das Ausmaß der sexuellen Gewalt wahrzunehmen und den Arzt anzuzeigen. Es ist einem sechs Jahre alten Mädchen zu verdanken, dass die zahlreichen sexuellen Übergriffe und Vergewaltigungen schließlich an die Öffentlichkeit gelangten.
Im Jahr 2017 vergewaltigte Le Scouarnec das Nachbarsmädchen hinter einer Hecke im Garten. Die Eltern wandten sich an die Polizei. Bei den anschließenden Ermittlungen fanden sich die Tagebücher des Arztes, in denen er minutiös seine Gewalttaten und zahlreich weitere perverse Akte mit Puppen und seinen eigenen Exkrementen beschrieb.
Einige Opfer wussten gar nichts von den Taten
Es dauerte Monate, bis ein Großteil der Opfer identifiziert war. Viele von ihnen waren entsetzt, weil sie erst dadurch erfuhren, was ihnen in ihrer Kindheit geschehen war. Andere waren sich dessen bewusst gewesen, hatten es aber verdrängt. Vor Gericht schilderten viele, wie sehr die Taten von damals ihr Leben beeinträchtigt hatten – von psychologischen Problemen bis hin zu Suizidgedanken.
Kurz vor dem Ende des Prozesses erklärte Le Scouarnec selber, dass er sich für die Selbsttötung von zweien seiner früheren Opfer verantwortlich fühle.
Betroffene wütend und enttäuscht über mechanische Entschuldigungen
Für die Betroffenen war der seit drei Monaten andauernde Prozess streckenweise besonders quälend. Der Angeklagte gestand zwar nach einer Weile pauschal alle Vergehen, die ihm vorgeworfen wurden. Doch seine mechanisch vorgetragenen Entschuldigungen, verbunden mit der Behauptung, sich an kaum ein Opfer zu erinnern, lösten vor allem Wut und Enttäuschung aus.
„Taten einzugestehen, ohne sich an sie zu erinnern, ist völlig sinnlos“, erklärte der Anwalt Giovanni Bertho-Briand. Sein Kollege Iannis Alvarez zeigte sich skeptisch, dass der Prozess gesellschaftliche Folgen habe. „Die Frage ist, ob sich die Geschichte von Joël Le Scouarnec erneut abspielen könnte. Und die Antwort lautet: Ja“, betonte er. (dpa/mp)
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